Die Kölner Edelweißpiratin Gertrud „Mucki“ Koch über illegale Aktionen ihrer Gruppe
Ende 1939 oder Anfang 1940, so genau kann ich mich nicht erinnern, überlegten wir sechs uns, was wir eigentlich waren. Wir kannten uns nun schon eine ganze Weile und vertrauten einander immer mehr. Jeder tat auf seine Weise etwas gegen den Nationalsozialismus – so wusste ich, dass Gustav schon Flugblätter geschrieben hatte –, doch bislang hatten wir keine gemeinsamen Aktionen durchgeführt, sondern nur darüber gesprochen, dass es mit Hitler nicht länger so weitergehen durfte.
Als wir uns eines Nachmittags in den Schrebergärten im Grüngürtel trafen, sagte Willi: „Wir haben so oft am Lagerfeuer zusammengesessen, aber ich weiß dennoch nicht, was wir eigentlich sind. Sind wir Naturfreunde? Sind wir noch Bündische Jugend? Oder sind wir eine ganz andere Jugend?“
Willi traf den Nagel auf den Kopf. Klar waren wir „die andere Jugend“, die unangepasste, die oppositionelle Jugend, aber mit einem Verweigern des Hitlergrußes oder der HJ-Zugehörigkeit war es schließlich nicht getan. Wenigstens waren wir dieser Meinung. Auch das erforderte in diesen Zeiten schon unglaublich viel Mut. Wir wollten zudem frei sein, wir wollten wandern und singen können, wir wollten unsere Kleidung und unser Aussehen selbst bestimmen – alles Wünsche, die unter dem nationalsozialistischen Regime undenkbar waren. Und für die wir kämpfen wollten. Bislang hatten wir keine konkreten Pläne, was wir gegen das Hitler-Regime unternehmen konnten. Aber wenn wir tatsächlich Widerstand leisten wollten, das wurde uns in diesem Augenblick bewusst, dann mussten wir eine eigene Gruppe bilden und uns einen Namen geben, der uns eine Zielrichtung gab und unsere Interessen zum Ausdruck brachte.
Es war klar, dass wir uns nicht als illegale, wilde Gruppe der Bündischen Jugend verstanden, auch wenn wir aus ihr hervorgegangen waren. Wir brauchten eine eigene Identität, die die neuen politischen Machtverhältnisse widerspiegelte.
„Wer macht den ersten Namensvorschlag für unsere neue Gruppe?“ Mit meiner Frage versuchte ich, unsere diffusen Vorstellungen und Empfindungen zu konkretisieren.
„Irgendein Indianerstamm“, schlug Hadschi vor. „So wie die Navajos. Die sollen sich doch nach einem mexikanischen Indianerstamm benannte haben. Und zwar deshalb, weil sich dieser Stamm nie was gefallen ließ. Haben immer gleich Krach geschlagen.“
Die Navajos waren Kölner Jugendliche, die sich Ende 1934 formiert und seitdem über das ganze Stadtgebiet verteilt hatten. Die meisten von ihnen kamen aus Arbeiterfamilien, waren kurz in der HJ gewesen, lehnten aber deren Drill ab und gingen auf Konfrontationskurs. Als Erkennungszeichen diente ihnen ein Handgelenkriemen mit Totenkopf. Ihre größte Stärke und Aufmerksamkeit erreichten die Navajos ungefähr 1937. In dieser Zeit kam es zu vielen handfesten Auseinandersetzungen mit dem HJ-Streifendienst. Wir waren damals zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt, die Navajos aber schon um die zwanzig. Jetzt hörten wir nichts mehr von ihnen. Die Gestapo hatte es offenbar geschafft, ihre verschiedenen Gruppierungen aufzulösen. Sie hatte eine richtige „Navajos-Jagd“ veranstaltet, mit vielen Durchsuchungen, Großrazzien und Festnahmen. Laut Gestapo bestand bei den Navajos der „Verdacht der Zugehörigkeit zu einem staatsfeindlichen Jugendverband“. Auf diese Weise gelang es der Gestapo schließlich auch noch, die jungen Männer zu kriminalisieren.
„Nee“, meinte Ali. „Wir sind eine andere Generation und müssen uns von ihnen unterscheiden, auch wenn wir wie sie weiße Söckchen und kurze Hosen tragen. Wie wäre es mit ‚Rosa Köln’?
Willi und Gustav waren für ‚Rhein-Internationale’.
Plötzlich ging alles durcheinander: „Wüstenmaus“, „Zugvögel“, Bärenfett“, „Matterhorn“, Edelweiß“.
„Edelweiß?“, fragten nun alle.
„Das ist was für Mädchen.“ Willi war der Einzige, der irritiert schaute. „Da können wir doch gleich Vergissmeinnicht oder Rose nehmen.“
„Na, überlegt mal! Edelweiß ist eine Blume, die auf den höchsten Bergen wächst, sogar bei Schnee und Eis. Keiner kommt an sie heran und kann sie einfach abpflücken, außerdem steht sie unter Naturschutz. Ein Edelweiß ist frei, wunderbar frei, keine andere Blume ist so frei wie ein Edelweiß. Wo die blüht, da wird uns nichts passieren. Das wär doch was für uns.“
Wir überlegten hin und her, auch zusammen mit anderen „unangepassten“ Jugendgruppen in Köln und Düsseldorf, mit denen wir lose verbunden waren – und auf einmal hießen wir „Gruppe Edelweiß“. Der Name bezog sich dann später auf viele Jugendgruppen, nicht nur im Kölner Raum. (...)
Wir schrieben unsere ersten Flugblätter, und Tom, der fromme Drucker, vervielfältigte sie. Meist bestanden sie nur aus Parolen, die in dem damaligen Jargon verfasst waren: „Macht endlich Schluss mit der braunen Horde!“, „Soldaten legt die Waffen nieder“ oder „Wir kommen um in diesem Elend. Diese Welt ist nicht mehr unsere Welt. Wir müssen kämpfen für eine andere Welt, sonst gehen wir unter, kommen um in diesem Elend.“ Anfangs formulierten wir viele von ihnen zusammen, später war das Vertrauen so groß, dass sie auch allein mit Tom abgesprochen wurden. Über die einzelnen Parolen wurde zwar hin und wieder diskutiert, aber da sie keine inhaltsschweren Theorien aufwiesen, waren wir uns über die Worte schnell einig. Manchmal gab es zwei oder drei verschiedene Flugblätter in der Woche. Das schafften wir, weil wir mit anderen Edelweißgruppen aus anderen Stadtteilen – insbesondere Sülz, Ehrenfeld und Kalk – in einem losen Verbund standen und ihnen Flugblätter abnahmen beziehungsweise austauschten. Die Flugblätter wurden nicht unterschrieben, es gab keine Kennzeichnung, der Name Eelweiß tauchte nirgends auf. Auf einigen Flugblättern war eine aufgezeichnete Edelweißblume, aber nicht bei unseren eigenen. Wir wollten so anonym wie möglich bleiben, um uns zu schützen.
Wenn wir das Gefühl hatten, dass unsere Gesichter in den Städten zu bekannt wurden, weiteten wir unseren Aktionsradius auf kleinere Orte im Bergischen Land aus – auf Wuppertal oder Wermelskirchen. Die Gestapo konzentrierte sich auf die großen Ruhrpottstädte, sodass wir in Orten mittlerer Größe weniger gefährdet waren. Nachts schlichen wir uns zu den Güterbahnhöfen und schrieben mit dicker Schulkreide auf die Waggons: „Räder rollen für den Sieg, Hitlerköpfe nach dem Krieg!“ Oder: „Macht Schluss, Soldaten! Guckt mal, wie es in eurer Heimat aussieht, guckt mal, was Hitler aus eurer Heimat gemacht hat. Was habt ihr eigentlich verteidigt? Wen habt ihr verteidigt? Die Kapitalisten!“ Wenn keine Kontrollposten auftauchten und uns störten, blieb kein einziger Güterwaggon von uns verschont. Wir schrieben unsere Parolen auch auf Hauswände, aber das wurde von Monat zu Monat gefährlicher, da abends immer SS- oder SA-Leute unterwegs waren, um jeden festzunehmen, der sich im Geringsten verdächtig benahm. (...)
Was wir mit der Gruppe Edelweiß auch planten, der Gefahr waren wir uns nicht bewusst. Wir wollten nicht daran denken, wie gefährlich das war, was wir anstellten. Wir waren naiv, wir dachten, wir werden schon aufpassen, dann wird uns keiner sehen. Und wenn uns doch einer entdeckt, dann müssen wir einfach schnell weglaufen. (...)
Da wir nur arbeiten konnten, solange wir nicht erwischt wurden, überlegten wir, wie wir unser Warnsystem optimieren konnten. Wahrscheinlich hatte ich von der „Liebespaar-Taktik“ während der Küchengespräche bei uns zu Hause gehört, jedenfalls schlug ich sie vor: „Bei dieser Strategie müssen Junge und Mädchen eng umschlungen herumstehen. Aber es muss schon glaubhaft nach Liebespaar aussehen – wozu sind wir drei Mädchen in der Gruppe. Durch das enge Zusammenstehen kann der eine nach vorn schauen und der andere nach hinten oder nach links und nach rechts. Und wenn irgendetwas ist, dann wird sofort auseinander gegangen. Das ist für alle das Zeichen, dass wir aufhören müssen. Da ist kein Pfeifen nötig, das uns verraten könnte. Eine wunderbar lautlose Sache.“
Alle waren von dieser Taktik begeistert, wenn natürlich auch darüber gekichert wurde. Jeder malte sich sofort aus, wer ein gutes „Liebespaar“ abgeben könnte. Je nach Gelegenheit wandelten wir diese Strategie ab. Sie hat uns mehr als einmal in heiklen Situationen gerettet.
Auf jeden Fall waren wir bei unseren Aktionen sehr vorsichtig. Und wenn man einmal mehr als nötig auseinander ging, so war das besser, als es überhaupt nicht oder zu spät zu tun. In sehr gefährlichen Situationen, wenn uns SS- oder Gestapoleute schon auf den Fersen waren, fingen wir an, laut zu streiten. Die Bedeutung solcher Aufgenblicke war klar: allerhöchste Zeit, jetzt sämtliche Flugblätter oder Kreidestifte wegzuschmeißen – und nichts wie weg.
Damit jeder in der Gruppe wusste, dass es wieder Flugblätter zu verteilen gab, setzte ich als Erkennungszeichen ein gehäkeltes blaues Wollkäppchen auf, auf das weiße Wolle appliziert war und das am Ende einen weißen Bommel hatte, eine Art Antenne, wie Gustav immer sagte, für jeden gut sichtbar. Nun konnte die nächste Aktion besprochen und gestartet werden, ohne dass nur einmal das Wort „Flugblatt“ fiel. Wenn ich es beim Wandern keck auf den Hinterkopf schob, dann kamen Gustav oder Banjo Willi zu mir, ganz beiläufig, und sagten: „Der Packen liegt da und da“, und schon reihten sie sich wieder vorne oder hinten ein und sangen weiter, bis einer von uns erneut ausscherte, um den anderen die Informationen weiterzugeben. Auf diese Weise erfuhren wir auch, wo wir die Flugblätter verteilen wollten und wann die ganze Angelegenheit starten sollte. Die Flugblätter waren das Wichtigste für uns. Sicher, auch der Kreidestift erfüllte seinen Zweck, aber unsere Kreideparolen waren, wenn es regnete, sofort wieder weggespült. Wir hatten die Hoffnung, dass einige Menschen unsere Flugblätter aufheben und heimlich weitergeben würden. Wahrscheinlich war auch das eine naive Hoffnung.
Auszüge aus: Gertrud Koch: „Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin“. Aufgeschrieben von Regina Carstensen. Copyright © 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Edelweiß ist eine Blume, die auf den höchsten Bergen wächst, sogar bei Schnee und Eis. Keiner kommt an sie heran und kann sie einfach abpflücken.
Wahrscheinlich hatte ich von der „Liebespaar-Taktik“ während der Küchengespräche bei uns zu Hause gehört.


Edelweißpiraten auf der Kö
Die Kölner Widerstandskämpferin Gertrud „Mucki“ Koch erinnert sich
Gertrud Koch tastet die steinerne Brüstung der Fußgängerbrücke ab. Ihre Hand gleitet weiter zum schmiedeeisernen Geländer mit den Verzierungen. „Das ist sie“, sagt sie entschieden. Und schildert dann die Blitzaktion mit den Flugblättern, die sie mit ihrer Edelweiß-Gruppe hier an der Kö unternahm, vor nun bald 65 Jahren. Es war ein kalter, grauer Tag im November 1942. Gertrud, genannt Mucki, und ihr verschworener Kölner Freundeskreis hatten beschlossen, Düsseldorf einen gezielten Besuch abzustatten. Erst verzierten sie heimlich am Güterbahnhof etliche Waggons mit Kreideparolen gegen Naziherrschaft und Krieg, verstreuten dann auf der großen Treppe eines Verwaltungsbaus am Rhein Flugblätter und trafen sich auf Umwegen später im Hofgarten wieder, um noch zur Königsallee zu ziehen. Dort verteilten sie sich, es dämmerte schon, auf die verschiedenen Brücken und ließen ihre restlichen Handzettel unauffällig ins Wasser segeln – oder auf die dünne Eisschicht, die sich vielleicht gerade bildete. Ein sichtbares Zeichen des Ungehorsams, des Widerstands, mitten in der Stadt, mitten in der Zeit schlimmsten braunen Terrors.
Später am Abend trafen sich die jungen, meist 17- oder 18-jährigen Freigeister, die sich bei den Naturfreunden gefunden hatten, mit Düsseldorfer Gleichgesinnten in einer Wohnung in der Talstraße 64, um ein wenig zu feiern und zu singen. Dies war vielleicht keine so gute Idee. Sie hatten jedenfalls gerade zum Lied „Wir saßen in Jonnys Spelunke, bei Kartenspiel und Schnaps“ angesetzt, als krachend die Haustür aufflog und ein Trupp von SS-Männern und HJ-Streifendienstlern hereinstürmte, um die Wohnung und sämtliche Anwesende zu filzen. Wirklich brisantes, belastendes Material kam dabei nicht zum Vorschein (eine „Klampfe“, heißt es im Polizeibericht unter anderem, sei eingezogen worden, „da sie typisch bündisch bemalt war“). Dennoch wurden alle abgeführt.
Gertrud alias Mucki Koch, geborene Kühlem, wurde am nächsten Tag wie die anderen Kölner ins Gestapogefängnis ihrer Heimatstadt verfrachtet, dort einige Tage lang festgehalten und immer wieder rüde verhört – letztlich ergebnislos. Sie war danach allerdings kaum zwei Monate wieder auf freiem Fuß, als die Gestapo erneut zuschlug und eine als Abschiedstreffen gedachte Kölner Edelweiß-Feier – die politische Arbeit war nun endgültig zu gefährlich und etliche männliche Mitglieder in Strafbataillone gesteckt worden – hochgehen ließ. Diesmal wurden die heißgeliebten Wandergitarren brutal zerschmettert, und für Mucki begann eine lange Zeit der Torturen und der Isolation, die ihr fast den Verstand raubten.
Über all dies, auch über ihre Kindheit im kommunistischen Elternhaus, die Herausbildung der Edelweiß-Gruppe und nicht zuletzt das abenteuerliche Überleben 1944/45 zusammen mit ihrer tapferen Mutter – der Vater war im Konzentrationslager Esterwege umgekommen – berichtet Gertrud Koch in ihrem bewegenden, von Regina Carstensen aufgeschriebenen Buch „Edelweiß“. 83 Jahre hat die hellwache, lebens- und sangeslustige Kölnerin inzwischen auf dem Buckel. Aber was heißt hier Buckel: Die Dame ist nicht nur von geradlinigem Wesen, sie hält sich auch fabelhaft gerade. Nur die Augen machen ihr Kummer. Auf einem sieht sie gar nichts mehr, auf dem anderen nur noch wenig. Und das ist auch der Grund, weshalb sie neulich „ihre“ Kö-Brücke nur durch Tasten wiedererkannte.
Olaf Cless
(Düsseldorfer Hefte 10/2007)
BU:
„Die anderen kamen von da drüben.“ Gertrud Koch auf der Kö-Brücke, 65 Jahre nach ihrer Flugblattaktion
Foto: Cless
... als krachend die Haustür aufflog und ein Trupp von SS-Männern und HJ-Streifendienstlern hereinstürmte, um die Wohnung und sämtliche Anwesende zu filzen.
Mucki Koch sucht ihre Freunde!

Während des Faschismus wurde ein Großteil der Jugendlichen – aus Begeisterung oder Anpassung – Mitglied der Hitlerjugend. Andere Jugendliche hingegen leisteten aktiven Widerstand. So auch die 1924 geborene Mucki Koch, die sich lieber mit Angehörigen der von den Nazis verbotenen Bündischen Jugend traf.
Ihre Gruppe, die sich „Club Edelweiß“ nannte, verteilte in den Jahren 1939 bis 1942 Flugblätter und schrieb Parolen an Hauswände. 1941/42 wurde Mucki mehrfach von der Gestapo verhaftet, im EL-DE-Haus verhört und monatelang in Brauweiler inhaftiert.
Mucki, die geborene Kölnerin, war auch in Düsseldorf aktiv. Sie sucht Freunde und Bekannte aus dieser Zeit, zum Beispiel die Düsseldorfer Edelweißpiraten Hatte, Fate und Itz, nach denen das gleichnamige Lied benannt ist.
Wenn Sie selbst Zeitzeuge sind oder weiter-helfen können, würden wir uns über eine Nachricht, ein Gespräch sehr freuen.
Nachrichten nehmen im Kulturzentrum zakk Christine Brinkmann (0211 – 9730034) & Heike Billhardt (0211 – 9730032) entgegen.
Das zakk veranstaltet in Kooperation mit Humba e.V., VVN BdA, dem AStA der FH Düsseldorf, Heinrich-Heine-Salon e.V. und vielen mehr am 23. September das Edelweißpiratenfestival, für das sowohl Zeitzeugen gesucht werden als auch heutige Musikgruppen, die Lieder aus der Zeit der Edelweißpiraten interpretieren können.
Ebenfalls wird die Veranstaltung zum Anlass des 20. Jubiläums der Mahn- und Gedenkstätte veranstaltet.
Gefördert durch: Landschaftsverband Rheinland & dem Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf
Geschäftsführung: Jochen Molck, Amtsgericht HRB 16243 StSpk Düsseldorf
