Die Edelweißpiraten

»Ihr könnt mich nicht, wenn ich nicht will! «


„Wilde Jugend“ gegen Hitler

Sie hatten kein politisches Programm, keinen einheitlichen Dachverband und noch nicht einmal gemeinsame Vorstellungen über die nähere und fernere Zukunft. Trotzdem sahen die Nationalsozialisten in den „Edelweißpiraten“, die insgesamt mehrere tausend Mitglieder zählten, eine immense Bedrohung. Um die Aktivitäten dieser und anderer „wilder Jugendgruppen“ zu unterbinden, versuchten die Machthaber alles, um deren nonkonforme Mitglieder unter Kontrolle zu bringen. Die Zuläufe zu den sogenannten „wilden Jugendgruppen“, zu denen auch die Edelweißpiraten gehörten, verstärkten sich in den Jahren 1938/39, als die Hitlerjugend (HJ) durch die „Jugenddienstpflicht“ die Freiheiten der Jugendlichen immer mehr einschränkte. Diese Einschränkung hatte zur Folge, dass viele Jugendliche den Wunsch nach jugendlicher Selbstbestimmung hegten und dementsprechend die Disziplin und den Massencharakter der nationalsozialistischen Jugendorganisationen ablehnten. Das galt auch für Mädchen, die sich nicht in die „Frau und Mutterrolle“ der Nationalsozialisten drängen lassen wollten und sich deshalb den wilden Jugendgruppen anschlossen. Durch die Mädchen wurde die Anziehungskraft der Cliquen erhöht, da in der HJ eine absolute Geschlechtertrennung herrschte.

Die Vorgeschichte

Die wilden Jugendgruppen entstanden direkt aus der nach 1933 verbotenen Bündischen Jugend oder lehnten sich an deren Traditionen an. Die Bündische Jugend hatte ihre Wurzeln wiederum in der um 1900 entstandenen Wandervogelbewegung. Die Ziele waren: Selbstverantwortlichkeit und Selbsterziehungsrecht, Anerkennung des Eigenwertes der Jugend, Lebensformen durch Rückkehr zur Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit (Wandern, Volkslied, Volkstanz).
1933 kamen die Nazis in Deutschland an die Macht. Die alten bündischen Gruppen wurden dementsprechend „gleichgeschaltet“ und auch noch die letzten Formen bündischen Lebens bis spätestens 1939 verboten. Wer sich der Gleichschaltung und dem Verbot widersetzte, wurde verfolgt und bestraft.

Wer waren die Edelweißpiraten?

Die Namensgebung der Edelweißpiraten kam von außen: Gestapo-Beamte nannten nach 1939 verschiedene Jugendgruppen „Edelweißpiraten“, da das Edelweiß eines unter vielen Kennzeichen der verbotenen Bündischen Jugend gewesen war. Der Namensteil Piraten leitet sich von den Kittelbachpiraten her, einer offiziell bis 1933 bestehenden rechtsradikalen Gruppe in Düsseldorf, die nach der Machtübernahme jedoch größtenteils in die HJ oder die SA überging. Manche der Kittelbachpiraten gingen jedoch in den Untergrund und leisteten Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Vermengung der Begriffe Edelweiß und Piraten war daher anfänglich eine Provokation für Jugendliche mit oppositionellem Verhalten, speziell für solche mit Wurzeln in der Bündischen Jugend, in der linksgerichteten Naturfreundejugend oder im kommunistischen Rotfrontkämpferbund, wurde aber von jungen Gruppierungen gegen Ende des Krieges als Selbstbezeichnung gewählt.

Wo gab es die Edelweißpiraten?

Einige dieser Gruppen beteiligten sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Sie gab es besonders häufig im großstädtischen Umfeld der westdeutschen Industriezentren, so etwa in Köln-Ehrenfeld, in Dortmund oder eben auch in Düsseldorf. Spätestens ab 1942 kann Köln als wahres Zentrum der Edelweiß-Gruppen mit über 3.000 in Gestapo-Akten genannten Namen angesehen werden. Aber auch in Duisburg, Düsseldorf, Essen und Wuppertal stellte die Gestapo bei Razzien mehr als 739 vermeintliche Edelweißpiraten.

Wie leisteten die Edelweißpiraten Widerstand?

Der Widerstand der Edelweißpiraten gegen das NS-Regime äußerte sich in der Anfangsphase in der Durchführung verbotener Fahrten und Zeltlager. Das freie Fahrtenwesen der Wandervogelbewegung war von der HJ-Führung verboten worden. Stattdessen wurden HJ-Fahrten und -Lager eingeführt. Hier war der Tagesablauf mit militärischer Disziplin geregelt, es dominierten ideologische Schulungen und paramilitärische Übungen. Um den oppositionellen Jugendlichen die freien Fahrten unmöglich zu machen, wurde ihnen das Trampen verboten und die Benutzung von Feuerzelten. Diese Verbote wurden wiederum damit durchgesetzt, dass Fahrtenerlaubnisscheine eingeführt wurden und der HJ-Streifendienst gebildet wurde, der die verbotene Fahrtenaktivität kontrollieren sollte. Die Edelweißpiraten missachteten das Fahrtenverbot und trampten innerhalb Deutschlands umher.
Über das gesamte Reichsgebiet kann die Gegnerschaft zur HJ als verbindendes Element angesehen werden, stärker als die Nachfolgeschaft einer traditionellen verbotenen Jugendgruppe. Die Verhaltensweisen der ehemaligen Bündischen wurden zwar oft angenommen, ohne aber deren Ursprung zu kennen und ohne die typische hierarchische Organisation. Dabei suchten manche Gruppen nach handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Streifen der HJ, wobei auch Straßenkämpfe aufgrund territorialer Ansprüche gegen andere Jugendbanden ausgetragen wurden. Andere Gruppen vermieden jeden Kontakt mit der HJ, insbesondere mit der assistierenden SA. Einfache Flugblätter wurden erstellt und verteilt, „feindliche“ Radiosender abgehört und eine strenge Einordnung in das System der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ unter allen Umstände umgangen. Ein Edelweißpirat berichtet: „...Was kann man machen? Einer hatte die Idee. ‚Naziköpfe rollen nach dem Krieg’ schreiben wir auf den Tender der Lokomotive. Und schon zwei Abende später bei schweren Bombenangriffen stieg die Aktion. Der Zug ist auch damit losgefahren...“ Ein anderes Flugblatt rheinischer Edelweißpiraten trug die Aufschrift: „Macht endlich Schluss mit der braunen Horde! Wir kommen um in diesem Elend. Diese Welt ist nicht mehr unsere Welt!“

Wie sah der Alltag der Jugendlichen aus?

Der Gerresheimer Schüler Werner Heydn, geboren 1925, erinnerte sich später: „Die Menschen merkten, dass das eigentliche politische Ziel der Nazis auf Krieg gerichtet war. So kam es, dass ich, als ich meine Lehre als Dreher in Düsseldorf begann, Kontakt bekam mit gleichdenkenden Jugendlichen. (…) An einem Sonntag waren wir zum Baden nach Hilden ins Strandbad gefahren. Einer von uns hatte ein kleines Kofferradio, und wir hörten, dass morgens der Überfall auf die Sowjetunion gestartet worden war. In der Hitlerjugend war ich nicht, weil ich den ganzen militärischen Drill nicht mochte.“ So schloss sich der junge Mann einer losen Jugendclique an. „Das waren Jungs aus verschiedenen sozialen Schichten. Wir trafen uns und spielten gemeinsam Lieder auf unseren Gitarren. Wir wollten eigentlich einfach nur wie Jugendliche leben. Dazu kam, dass sich die Nazis und die Gestapo für uns interessierten, obwohl wir ja gar nicht aus unmittelbar politischen Gründen zusammen waren, und wir bekamen den Druck bald zu spüren. Wir wurden zu Vernehmungen in die Leitstelle der Gestapo in der Prinz-Georg-Straße bestellt. Man hat uns gewarnt, wir sollten das nicht weitermachen, wir könnten ja doch auch bei der Hitlerjugend wandern und marschieren und unsere Lieder singen. Aber wir waren uns eigentlich alle einig und reagierten auf diesen Druck mit Gegendruck, wir wollten mit den Nazis nichts zu tun haben.“

Wie sahen die Nazis die Edelweißpiraten?

Vom NS-Regime als „verlottert“, „sittlich verwahrlost“ und „kriminell“ bezeichnet, lehnten sie vor allem den während des Zweiten Weltkriegs zunehmenden Zwangscharakter, den Drill und die wachsende Militarisierung der HJ ab. Neben den losen Edelweißpiratengruppen gab es noch andere Jugendgangs und Cliquen, wie etwa die Swing-Kids, die der angloamerikanische Musik und dem Jazz anhingen, sich nicht einordnen wollten und sich auch auffällig kleideten, oder die so genannten Navajos. Ein Gefolgschaftsführer der HJ verstand 1936 unter Navajos „solche Personen, die aus der HJ ausgeschlossen sind ... und solche wegen Vergehens gegen § 175 (Paragraf des deutschen Strafrechts gegen Homosexualität). Jede jugendliche Person, die ein bunt kariertes Hemd, sehr kurze Hose, Stiefel mit übergeschlagenen Strümpfen trägt, wird von der HJ als ‚Navajo‘ angesehen.“ In Düsseldorf gab es zudem die streng überwachten „Fahrtenjungs“. 1941 berichtete die Gauleitung der Partei der Gestapo von einer „bolschewistischen Horde“, deren Mitglieder „meist in Begleitung von jungen, verkommenen Mädchen, in undisziplinierten Horden in bunten Anzügen und bunten Tüchern anzutreffen“ seien. Diese würden sich an entlegenen Plätzen, wie etwa dem Neandertal bei Düsseldorf treffen. Man empfahl der Geheimpolizei, „die Polizei-Organe zu einem schärferen Vorgehen und zu einem verstärkten Streifendienst zu veranlassen.“ Der damalige NSDAP-Ortsgruppenleiter von Düsseldorf-Grafenberg schrieb im Juli 1943: „Mir wird gemeldet, daß sich und zwar nach dem letzten Terrorangriff auf Düsseldorf, Ansammlungen Jugendlicher in der Ostparkanlage stärker denn je bemerkbar machen. Diese Jugendlichen im Alter von 12-17 Jahren flegeln sich bis in die späten Abendstunden mit Musikinstrumenten und weiblichen Jugendlichen hier herum. Da dieses Gesindel zum großen Teil außerhalb der HJ steht und eine ablehnende Haltung zu dieser Gliederung einnimmt, bilden diese eine Gefahr für die übrige Jugend.“ Und weiter heißt es im selben Schreiben: „Es besteht der Verdacht, daß diese Jugendlichen (Edelweißpiraten) diejenigen sind, welche die Wände in der Unterführung an der Altenbergstraße beschrieben mit ‚Nieder mit Hitler’, ‚Orden und Ehrenzeichen für das große Morden’, ‚Nieder mit der Nazi Bestie’ u.s.w.“

Was wurde aus den Edelweißpiraten?

Viele der Gruppenmitglieder wurden verhaftet, verurteilt, in Heime gesteckt oder von der Gestapo verschleppt, verhört, gefoltert oder ermordet. Alleine in Köln-Ehrenfeld erhängte man im November 1944 13 Mitglieder einer jugendlichen Gruppe, darunter war der 16jährige Barthel Schink. Es überlebten die Kölner Edelweißpiraten Mucki Koch und Jean Jülich, die beide als Zeitzeugen noch heute von ihren damaligen Erlebnissen berichten. Der Düsseldorfer Werner Heydn beteiligte sich an spontanen Flugblattaktionen gegen den Krieg und unterhielt Kontakte zu illegalen kommunistischen Gruppen. Er wurde am 19. März 1943 durch die Düsseldorfer Gestapo verhaftet, die ihm den Kopf kahl schor und ihn neun Monate lang festhielt, bevor er weitere neun Monate im Untersuchungsgefängnis Ulmer Höh einsaß. Nach einer Odyssee durch mehrere Straflager wurde er 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Die Anzahl der ermordeten Edelweißpiraten ist unbekannt. Die Dokumentation über Mitgliedschaft, Aktionen, Verhöre und Hinrichtungen liegt fast ausschließlich bei den Tätern des NS-Regimes. Die Jugendlichen führten auch aus Angst vor Verfolgung nicht Buch über ihre Aktivitäten. Viele der Gruppenmitglieder kannten sich nur mit dem Spitz- oder dem Vornamen, was wiederum ein Schutz bei Verhören war. Die vielfältigen Methoden der Verfolgung von Regimegegnern und die Unübersichtlichkeit der politischen Morde des Regimes besonders am Kriegsende erschweren ebenfalls die lückenlose Erfassung der Opfer. Es ist anzunehmen, dass nur eine Minderheit die Zeit des Nationalsozialismus überlebte.
Die Bundesrepublik tat sich lange schwer mit der Rehabilitierung der ehemaligen Edelweißpiraten; lange erkannten Geschichtsforscher und Gesellschaft ihr Verhalten vor 1945 nicht als Widerstand an. Aufgrund ihres Verhaltens werden bis heute einige ihrer Mitglieder entweder immer noch als Kriminelle abgestempelt oder zu Widerstandsikonen stilisiert – beides Positionen, die in ihrer Einseitigkeit kaum haltbar sein dürften. Erst Buchveröffentlichungen, Schulprojekte und ein wachsendes Medieninteresse haben die wenigen heute noch lebenden Edelweißpiraten und ihre Lebensgeschichten in den vergangenen Jahrzehnten bekannter gemacht.

Bastian Fleermann/Hildegard Jakobs,
Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf



Hinweise zum Weiterlesen:

Hildegard Jakobs
: Die andere Jugend im Nationalsozialismus in Düsseldorf, in: Erika Welkerling / Falk Wiesemann (Hg.): Unerwünschte Jugend im Nationalsozialismus, Klartext-Verlag Essen 2005, S. 255-272

Alfons Kenkmann: Wilde Jugend - Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Klartext-Verlag Essen 2002

Alexander Goeb: Er war sechzehn, als man ihn hängte. Das kurze Leben des Widerstandskämpfers Bartholomäus Schink, Rowohlt-Verlag Reinbek 2001

Jean Jülich: Kohldampf, Knast un Kamelle - Ein Edelweißpirat erzählt aus seinem Leben, Köln Kiepenheuer & Witsch 2003

Gertrud Koch
/Regina Carstensen: Edelweiß. Meine Jugend als Widerstandskämpferin, Rowohlt-Verlag Reinbek 2006